Erfüll deiner Natur ihre Wünsche

Zitat_Faizel

Kapitel 1 – Die Familie
Es ist später Nachmittag im Herbst. Ich spaziere mit meiner kleinen Tochter Marie durch den Luitpoldpark. Das heißt, ich schiebe den Wagen und sie lässt sich schieben – das faule Stück.

Die Wolken am Himmel spielen mit der Sonne Verstecken, doch so ganz lässt sie das nicht zu. Ich gehe einen Schritt nach dem anderen und schneide für Marie Grimassen. Ich kneife mit den Augen, streck ihr die Zunge raus, vibrier mit den Lippen. Herbstblätter rascheln unter dem Wagen, in meinem Ohr rauscht „Richtung Meer“ von Faizel.

Marie beachtet mich nicht, als ob sie weiß, dass mir das am meisten zu schaffen macht. Frauen, schon früh entdecken sie die Macht des Ignorierens.

Verträumt blickt sie aus dem Wagen Richtung Himmel. Aus ihrer Spucke bildet sie Luftbläschen und lässt diese über ihre Lippen tanzen. Eklig, wenn es nicht mein Baby machen würde.

In diesem Augenblick besteht für Sie die Welt aus einem wolkenverhangenen Himmel und Blättern. Grünen, gelben, braunen. Manche hängen, manche fallen. Dann ist da ein komischer Kerl, der seltsam sein Gesicht verzieht. Ah, das ist doch der Papa. Komm, ich lach ihn mal an, damit er endlich Ruhe gibt.

Sie lacht. Wie herrlich. Für ein Lächeln von ihr mache ich nahezu alles. Dann denke ich, sie fühlt sich wohl, alles ist gut in ihrer kleinen Babywelt und sie ist mit sich und ihrem Dasein im Reinen. Sie freut sich, dass sie da ist. Und ich tu es auch.

Marie lacht

Kapitel 2 – Die Arbeit
Als ich noch fest in einer Agentur gearbeitet habe und wir einmal einen neuen Kunden gewinnen wollten, sollte das ganze Team am Wochenende arbeiten. Ich hatte Urlaub beantragt, um meine Eltern zu besuchen.

Da sagte der Etat-Direktor zu mir:
„Wir brauchen dich jetzt hier. Kannst du nicht deinen Urlaub auf später verschieben?“
„Nein, leider nicht“, sagte ich und fügte hinzu, dass Familie wichtiger sei als Arbeit.
Das fand der Etat-Direktor, der zu dieser Zeit genau wie ich in der früh nur für sich den Kaffee machte, gar nicht gut.
„Mit dieser Einstellung wirst du es bei uns nicht weit bringen“, sagte er und ich antwortete natürlich.
„Wenn das so ist, scheiße ich darauf, es bei euch weit zu bringen.“

Blick zum Himmel

Kapitel 3 – Die Natur
Mit meiner kleinen Tochter kam ich nur zögerlich voran. Ich musste dringend pinkeln und wenn man alleine mit einem Baby unterwegs ist, kann das echt zu einem Problem werden.

Du kannst den Kinderwagen nicht mit aufs stille Örtchen nehmen, kannst ihn aber auch nicht draußen stehen lassen. Einfach so den nächsten Baum besprenkeln fällt schwer, es sei denn, du willst die elterliche Vorbildfunktion gleich mit abschütteln.

Als ich an einem Pfarrzentrum vorbei schiebe, überlege ich, dort rein zu gehen und den Pfarrer zu bitten, kurz auf Marie aufzupassen. Nach kurzer Überlegung verwerfe ich den Gedanken als zu riskant. Dann lieber die Gruppe Punks an der nächsten Bank fragen. Die Wildnis der Großstadt – nur das Alphatier mit der stärksten Blase überlebt und kann seine Familie allumfassend beschützen.

Schlussendlich entscheide ich mich für das „Augustiner“ beim Leopoldpark. Nachdem ich den Gastraum betrete, blicke ich mich um. Nahrungsaufnahmezeit. Ein korpulenter Mann mit Schweinebraten vor sich sitzt an dem einen Tisch. Eine leer vor sich hinstarrende Frau mit Putenstreifen-Salat am anderen.

Ich entscheide mich für die zwei älteren, Botox geglätteten Damen aus dem Viertel. Die eine isst Miesmuscheln in Weißweinsauce, die andere Rehragout mit Spätzle. Sie wirken streng, doch vertrauenswürdig. In der Steinzeit wären Sie verhungert, weil kein Essen für Sie delikat genug gewesen wäre.

„Entschuldigen Sie, können Sie kurz auf meine Tochter aufpassen?“
„Ja, aber gerne.“
Ein Blick in den Wagen. Marie nuckelt an ihrem Daumen.
„So ein bildhübsches Kind. Bestimmt ganz die Mama.“
„Nein, eigentlich mehr so wie ich.“
„Haha, sie Scherzkeks.“
„Hähä. Ja, stimmt. Ich geh dann mal schnell.“

Wenn du nichts zu verlieren hast, ist alles scheißegal. Wenn doch, bekommst du es mit der Angst. Besonders, wenn du ein wehrloses Kind zu beschützen hast. Als ich zurückkomme, bin ich erleichtert. Alles gut. Säbelzahntiger gibt es nicht mehr und die netten Onkel mit den braunen Mänteln lauern woanders.

Marie schaut aufs Meer

Kapitel 4 – Der Abend
Ich bedanke mich bei den Damen und schlendere weiter der Feierabendzeit entgegen. Da fällt mir auf, es heißt Feierabend und nicht Traurigabend. Nur so ein Gedanke. An der Münchner Freiheit treffen Marie und ich wie verabredet auf unsere Liebste. Sie kommt gerade aus dem Kino und hat noch von Tränen feuchte Augen.

Der Film „Gravity“ von Alfonso Cuaron erzählt von einer Frau, die ihre kleine Tochter verliert und droht, daran zu Grunde zu gehen. Sie arbeitet jeden Tag 18 Stunden und  fährt danach im Auto sinnlos durch die Gegend, hört Radio.  Dann nimmt sie eine Weltraummission an, bei der alles schief geht. Allein, verzweifelt und ohne Hoffnung kämpft sie gegen die Weite, den Tod, die sie alles umgebende Leere.

„Und, dann?“, frage ich.
„Schau dir den Film ab, aber nur so viel: Am Ende gibt es immer Hoffnung“, sagt sie.

Na, toll. Nie will sie mir das Ende verraten. Aber andersherum. Wäre doch langweilig, wenn man alles vorher wüsste. Dann gehen wir essen.

Während wir auf die Bestellung warten, schläft Marie friedlich zur Seite geneigt. Ihre winzigen Arme hat sie zum Kopf gestreckt. Und wenn mich nicht alles täuscht, träumt sie gerade vom wolkenverhangenen Himmel, fallenden Blättern und einem komischen Kerl, der sie zum Lachen bringen möchte. Vielleicht auch vom Meer.

Natürlich hätte ich an diesem Tag meine Zeit auch anders verbringen können. Kunden gewinnend, in Meetings sitzend, Karriere machend. Aber irgendwie fand ich die Sache mit der Familie schon immer das erstrebenswertere Ziel. Gerade jetzt und überhaupt für immer. Kurz überlege ich, was wohl der Etat-Direktor von damals macht, verwerfe aber den Gedanken, als ich aus dem Fenster blicke und ein Herbstblatt vorbei rauschen sehe. Im Hintergrund läuft Musik. Die Natur ruft. Ich geh pinkeln.

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